Der Fachtag war ein voller Erfolg: Lehrkräfte aus fast allen 100 SBBZ-ESENT (s.u.)in Baden-Württemberg sprachen in Korntal über ein Thema, das allen unter den Nägeln brennt: Wie kann man angemessen mit Schülerin-nen und Schülern umgehen, die wegen massiver emotionaler und psychischer Auffälligkeiten nicht mehr an „normalen“ Schulangeboten teilnehmen können und auch an SBBZ-ESENT immer schwerer zu integrieren sind?
Was sind SBBZ?
An Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (früher: Sonderschulen) erhalten Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen, weitreichenden und meist langwierigen Entwicklungsbedarfen ein differenziertes Bildungsangebot. Es gibt SBBZ mit verschiedenen Förderschwerpunkten. SBBZ-ESENT sind auf die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im Bereich Emotionale und Soziale Entwicklung spezialisiert.
Kai Holtkamp, Rektor der gastgebenden Johannes Kullen-Schule (JKS), sieht eine Ursache für diese Entwicklung „im jahrelangen Abwärtstrend bei Lehrkräften an öffentlichen Schulen. Lehrermangel und die wachsende Zahl von Schülern mit überdurchschnittlichen Auffälligkeiten haben dazu geführt, dass einzelne Schüler oft nicht die Beachtung erfahren, die sie bräuchten. Das Ergebnis sind massive Schul-Unlust und Frust in allen Lebensbereichen.“
Die pädagogische Begleitung von Schülern mit einem sehr hohen individuellen und speziellen Förderbedarf ist tägliche Aufgabe der Lehrpersonen an SBBZ-ESENT. Frank Marszalek, Lehrer an der JKS, macht deutlich: „Viele Schüler erleben: So, wie sie sind, ecken sie überall an und werden nirgendwo richtig integriert. Oft sehen sie keinerlei Chance, dies zu ändern. Sie sind „draußen“ und bleiben „draußen“. Das führt bei ihnen vielfach zu absoluter Frustration, Perspektivlosigkeit und einer „Mir-Doch-Egal“-Haltung.
Systemsprenger
Als Systemsprenger werden Personen bezeichnet, die aufgrund ihrer besonderen Verhaltensauffälligkeiten selbst durch hochdifferenzierte Angebote der SBBZ-ESENT nur schwer gehalten werden können. Die preis-gekrönte Ausstrahlung des gleichnamigen Doku-Dramas 2019 hat dieses Thema verstärkt ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt.
Diese kritische Situation müssen die Lehrerinnen und Lehrer auffangen. Und genau da liegt das Problem. Denn angesichts von immer mehr Kindern und Jugendlichen mit immer ausgeprägteren nachteiligen Verhaltensweisen kommen auch die Pädagoginnen und Pädagogen immer öfter an ihre Grenzen. Dazu Frank Marszalek: „Gerade solchen Schülerinnen und Schülern wollen wir einen geeigneten Rahmen bieten, in dem sie spüren und erleben: So, wie ich bin, bin ich geliebt und angenommen. Die Herausforderung für uns Pädagogen liegt darin, dass wir selbst genug Kraft und Durchhaltevermögen behalten, um unserer Schülerschaft jeden Tag eine neue Chance zu bieten.“
Genau das wird angesichts der wachsenden Anforderungen immer anspruchsvoller. Was also tun, wenn eigene Möglichkeiten an Grenzen stoßen? Pädagogikprofessor Menno Baumann von der Fliedner-Fachhochschule Düs-seldorf gab in seinem Fachvortrag eine Antwort. Ob pädagogisches Bemühen scheitert oder nicht, lässt sich nicht nur am vermeintlichen „Erfolg“, also einer nachvollziehbaren positiven Veränderung beim Kind, messen. „Entscheidend für gelingendes pädagogisches Handeln ist vor allem, dass Lehrerinnen und Lehrer selbst handlungsfähig bleiben,“ fasst Frank Marszalek zusammen. „Denn nur, wenn wir gesund sind und unsere eigene Resilienz bewahren, sind wir auf Dauer einsatzfähig und können wirkungsvoll arbeiten.“
„Das Gegenteil von Scheitern ist nicht der Erfolg. Das Gegenteil von Scheitern heißt handlungsfähig bleiben.“
Menno Baumann, Pädagogikprofessor
In über 20 Workshops konnten die Pädagogen spezifische Themen vertiefen und eigene Erfahrungen austauschen. “Das Kennenlernen anderer Schulprofile und die Begegnung untereinander hat uns für unseren herausfordernden Alltag ermutigt. Es gab neue Ideen für Kooperationen, mit denen sich SBBZ untereinander sowie mit Einrichtungen der Jugendhilfe verstärkt vernetzen wollen. Zudem gab es wichtige Impulse für eine systematische Schulentwicklung, die der rapiden gesellschaftlichen Veränderung Rechnung trägt,“ fasst Frank Marszalek zusammen.
Die Veranstalter ziehen eine positive Bilanz: Der Fachtag Erziehung hat deutlich gemacht, dass die Integration von Systemsprengern von enormer Tragweite ist. Schulleiter Kai Holtkamp hofft, dass dies zum besseren Verständnis für Kinder und Jugendliche in extremen emotionalen und sozialen Notsituationen beiträgt. „Es geht nicht darum, ihr Verhalten zu rechtfertigen, sondern dahinterliegende Biografien, traumatische Erlebnisse und seelische Belastungen besser zu verstehen. Das Maß, in dem ihre berufliche und gesellschaftliche Integration gelingt oder scheitert, beeinflusst auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und letztlich den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit unserer ganzen Gesellschaft.“
Frank Marszalek